Über den Dächern Taipeis

Was bisher geschah: Nach einer turbulenten Anreise bezieht K sein Quartier bei einer „Gastfamilie“. Bedingt durch die desolaten Zustände in der Bude, zieht er überstürzt wieder aus. Ohne eine feste Adresse zu haben, nimmt er seine ersten Chinesischstunden und juckelt kreuz und quer durch die Hostellandschaft Taipeis, wie ein Blatt im Wind. Derweilen sucht die Schule fieberhaft nach einer alternativen Unterkunft. Die Ereignisse überschlagen sich, als K einen überraschenden Anruf erhält…

Ha, erwischt! Der letzte Satz ist nur ein dramaturgischer Kniff. Ich habe noch überhaupt keinen Anruf gekriegt, seit ich in Taipei angekommen bin!

Was ich stattdessen erhalten habe, ist eine Textnachricht auf Line, das ist die Messenger-App, die hier jeder hat. Riona, welche die Gastfamilien und sozialen Aktivitäten der Schule managt, schreibt mir, dass sie eine neue Unterkunft für mich gefunden habe. Die Gastgeber hatten sich via Facebook auf ein Inserat der Schule gemeldet. Das Zimmer sei bereit, einzig das Bett und ein paar Utensilien fehlten noch. Und so konnte ich ein paar Tage später tatsächlich bei den Liao’s einziehen.

Die neue Bleibe ist in jeder Hinsicht ein Lottosechser, ich kann es gar nicht anders sagen. Zusammen mit Yascha, einem Politikwissenschaftler und Journalist, der ebenfalls an der LTL Chinesisch lernt, teile ich mir eine eigene Wohnung im obersten Stock eines siebenstöckigen Hauses; mit eigenem Bad und einer kleinen Terrasse, welche eine tolle Aussicht über die Dächer Taipeis bietet. Unsere Gastgeber, Liz und Douglas, sowie ihre zwei Töchter (9, 14) wohnen im vierten Stock. Jeden Abend gibt es ein gemeinsames opulentes Nachtessen, inklusive ausgedehnter Plauderei. Zugegebenermassen nicht 100% auf Chinesisch, es gibt einfach zu viel zu erzählen und mein Krüppelchinesisch reicht (noch) nirgends hin. Ausserdem, so meine Vermutung, nutzen die Liaos die Gelegenheit nur zu gerne, um selber ein bisschen Englisch zu üben. Sie sind sehr interessiert und es herrscht eine relaxte Atmosphäre, in der ich jederzeit Versuche in Chinesisch machen oder Fragen zu allem stellen kann, sei es Sprache, Kultur oder auch Politik.

Douglas ist ein äusserst passionierter Koch und zaubert jeden Abend ein 1A-Menu auf den Tisch, auch angetrieben von seiner Mutter, die ihn regelmässig telefonisch ermahnt, den beiden 老外 (Laowai; Ausländer) ja genügend Essen zu geben. Am Wochenende gibt es zudem noch zweimal gemeinsames Zmorge. Liz gibt mir jede Menge Tipps bezüglich Essen und Getränken, die es auszuprobieren gilt, und machte mich auch schon mit taiwanesischem Heavy Metal bekannt. [5]

Room with a View

Doch eine tolle Wohnung, freundliche Gastgeber, feines Essen und eine grandiose Aussicht sind noch nicht genug. Ich habe nicht nur den Lottosechser, sondern auch noch den Joker gewonnen. Ich wohne nämlich nur etwa 500m von der Schule entfernt, das heisst ich kann jeden Morgen 10 Minuten vor Unterrichtsbeginn aus dem Haus und mir bleibt, im Gegensatz zu fast allen anderen Schülern und Lehrern, die tägliche 40-minütige Pendlerei mit der MRT (U-Bahn) erspart. Wow, womit habe ich das verdient?

Znacht bei den Liaos: Wie im Restaurant, nur ohne Kellner

Auch die Nachbarschaft ist cool. Wie ich schon im letzten Bericht geschrieben habe, befindet sich die Schule (und somit auch mein neues Zuhause) in unmittelbarer Nähe des Taipei 101. Leider zeigt meine Terrasse vom 101 weg, aber ich sehe dieses Symbol Taipeis jeden Tag zwischen den Häusern aufragen; sei es, wenn ich zur Schule spaziere, über den Markt schlendere oder einen Kaffee trinken gehe. Das ist wirklich grossartig. Taipei hat sonst keine Wolkenkratzer, die zweithöchsten Gebäude nach dem 101 sind vielleicht 40 Stockwerke hoch, und auch davon gibt es relativ wenige (Quizfrage: Wie viele Stockwerke hat der 101?)

In unmittelbarer Nähe meiner Wohnung befindet sich tagsüber ein grösserer Frischwarenmarkt, auf dem alles, was essbar ist, gekauft werden kann. Hierhin kommen die Bauern vom Land, um ihre Ware loszuwerden. Am Abend verwandelt sich eine der Strassen in einen Nachtmarkt, auf dem an wohl über 80 Ständen jede Menge kleine Häppchen angeboten werden. Es hat relativ viele Restaurants und auch einige Cafés in der Umgebung, Supermärkte und Convenience Stores (z.B. 7-11 oder Family Mart) sowieso.

Abendspaziergang im Quartier

Der Einzug bei meiner Gastfamilie letzten Sonntag ist das erwähnenswerteste aus meinem sozialen Leben zur Zeit. Daneben gibt es nicht viel zu erzählen; ich habe noch ein paar Live Jazz Clubs [1] ausfindig gemacht, war in den heissen Quellen von Beitou baden [2] und wurde von meinem ersten Erdbeben durchgeschüttelt [3]. Da ich Abends meist noch Hausaufgaben erledige oder aus eigenem Antrieb noch etwas Chinesisch lerne (lesen, Podcasts, Youtube etc.), mache ich eigentlich nur an den Wochenenden ausgedehntere Ausflüge in die Stadt.

Letztes Wochenende war ein langes Feiertagswochenende. Ganz Taiwan gedenkt am 28. Februar (228) den Opfern der Aufstände von 1947 [4]. Viele Geschäfte waren geschlossen, aber wir hatten normal Unterricht, weil niemand Lust hatte, die Stunden auf Wochenenden zu verschieben (Ausfall war kein Thema, da der Unterricht wochenweise verkauft wird…)

Und damit hätten wir den Übergang zum Thema „Chinesisch“ gefunden! Vorneweg gleich mal der aktuelle PLHS Score.

Ein erstes gelbes Feldchen!

Nach einem einigermassen rasanten Start habe ich ein erstes Miniplateau erreicht. Bei der Grammatik sind wir inzwischen bei Ortsbeschreibungen angelangt. Letzte Woche habe ich geschlagene zwei Tage lang repetiert, dass die Katze auf dem Stuhl, dass der Hund darunter ist; dass sich der Kühlschrank neben dem Fernseher befindet, dass es im Laden Stäbchen, Becher und Ping Pong Bälle zu kaufen gibt, dass der Mann und das Kind vor dem Haus stehen und sich dahinter das Auto befindet, während sich – nützlich im Falle eines akuten Hungeranfalls – das Restaurant hinter dem Café, unweit der U-Bahnstation befindet… suuuuper spannend. Das Vokabular ist selbstredend immer noch äusserst eingeschränkt und die grammatischen Strukturen, die wir behandeln, sind ebenfalls noch ziemlich einfach. Ich drücke mich also mehrheitlich mit Hauptsätzen aus und die Buntheit meiner Ausdrucksweise liegt wohl irgendwo zwischen grau und beige. Das ist bisweilen etwas frustrierend, seufz.

Dafür geht es beim Lesen einigermassen voran. Ich kann einen meinem Wortschatz angemessenen Text ohne Transkription laut vorlesen, nach einigen Wiederholungen sogar einigermassen fliessend. Stilles lesen geht noch deutlich besser, weil ich dabei Töne und Aussprache ignorieren kann.

Beim Sprechen kämpfe ich natürlich immer noch primär mit den Tönen. Aber wenn ich mich konzentriert äussere, dann treffe ich diese doch meistens schon einigermassen. Meine Sprechexperimente mit der Gastfamilie sind jedenfalls zusehends von Erfolg gekrönt. Sobald die Konzentration nachlässt, z.B. weil ich müde bin oder wenn ich einfach drauflosquatsche, dann trampelt nach wie vor der Elefant durchs fein sortierte Tonhäuschen.

Darüberhinaus haben wir nun auch angefangen, meine Aussprache unabhängig von den Tönen näher unter die Lupe zu nehmen. Ich habe insbesondere Mühe, die stimmhaften Tsch- und Ts-Laute von den stimmlosen Dsch- und Ds-Lauten zu trennen. Bei mir ist immer immer zu viel Luft drin… Die eine meiner Lehrerinnen, Jessica, ist ein professioneller Sprech-Coach und sie weiss genau, auf was es ankommt und verfügt auch über entsprechendes Trainingsmaterial. Ich spreche ihr also endlose Listen mit Zh-, Tsch-, Ds-, Ts-, Sh- und Sch-Worten nach. Zehn Minuten davon ermüden Kiefer und Zunge deutlich mehr als ein zweistündiger Zahnarztbesuch! Das Gute ist, dass ich genau begriffen habe, worauf es ankommt; ich muss nur Zunge und Mund darauf trainieren, die richtigen Positionen auf Anhieb zu finden. Der Wechsel zwischen den Positionen ist dann noch die Kür. Jessica ist aber ein alter Hase und ich kann mich glücklich schätzen, dass sie mir zugeteilt wurde. Sie macht ihre Sache hervorragend und ich kann enorm von ihr profitieren. Von Avril, meiner zweiten Lehrerin, erzähle ich dann ein anderes mal…

Aus dem Leben eines Chinesischschülers

Zusammenfassend würde ich also sagen, dass mich zur Zeit hauptsächlich der limitierte Wortschatz daran hindert, Gespräche zu führen, die aus mehr als ein paar Hauptsätzen bestehen. Ich habe mich mittlerweile halbwegs an die chinesischen Zeichen gewöhnt und kann einfache Texte lesen. Töne treffe und höre ich zunehmend besser.

謝謝你閱讀。再見, 拜拜了。

[1] z.B. Sappho Live, ein kleiner gemütlicher Kellerclub mit live Jazz an jedem Wochentag, ausser Sonntag.

[2] Beitou ist ein Vorstadtquartier von Taipei, mit vielen heissen Quellen. Während der Kolonialzeit in der ersten Hälfte des letzen Jahrhunderts haben die Japaner auch ihre Badekultur nach Taiwan gebracht und in Beitou die ersten Badehäuser eröffnet. Bis heute gibt es dort viele öffentliche und private Bäder und Spa-Hotels. Ich habe meine Knochen im Long Nice Hotsprings ausgekocht (Achtung: „Long“ ist der Familienname der Betreiber). Die beiden Wasserbecken (Frauen und Männer getrennt, nackig) waren 43°C, resp. 46°C heiss.

[3] Nur ein kleines, in Taipei City hat man es kaum gespürt, es hat nur kurz geruckelt – links, rechts, links und fertig. Erdbeben sind in Taiwan an der Tagesordnung, die Insel ist eine der tektonisch aktivsten Zonen der Erde, wie folgende, von einem Experten zur Verfügung gestellte Karte zeigt:

Je brauner, desto häufiger und stärker rüttelt es

Das Central Weather Bureau von Taiwan listet alle kurzlich erfolgten Erdbeben auf seiner Website auf.

[4] Nachdem die Kuomintang (KMT) die Insel nach dem zweiten Weltkrieg von den Japanern übernommen hatten, wurde eine korrupte Regierung installiert. Als Folge davon gab es viel amtliche Willkür und Repression, was schlussendlich zu Aufständen der Bevölkerung führte, die äusserst blutig vom Militär niedergeschlagen wurden (man spricht von bis zu 28’000 Toten). Es folgte die Ausrufung von Kriegsrecht, welches bis 1987 bestehen blieb und die Phase des 40-jährigen „weissen Terrors“, der Diktatur Taiwans, einläutete.

[5] Nämlich mit Chthonic (siehe Youtube, höre Spotify). Die Band gibt es seit fast 30 Jahren und ist somit ein Urgestein asiatischen‘ Heavy Metals. Sie ist nicht zuletzt deshalb bekannt, weil ihr Gründer und Leadsinger Freddy Lim ein bekannter Politiker und Aktivist ist, der sich u.a. für die Unabhängigkeit Taiwans einsetzt. Darüber gibt es sogar einen Film, Metal Politics Taiwan, der auch im deutschsprachigen Raum diskutiert wurde.