Das chinesische Wort für ‚Krise‘ bedeutet auch ‚Chance‘.
John F. Kennedy soll das ursprünglich gesagt haben und auch Nixon’s Redenschreiber fanden den Spruch grossartig. Man kann es Ihnen nicht verdenken; es handelt sich um eine erstklassige Kalenderweisheit. Wer die Karre an die Wand gefahren hat, kann nachher aufs Velo umsteigen!
Aber auch wenn sich zahllose Schlaumeier dieses Bonmot auf geschundene Haut tätowieren lassen, so wird es doch nicht wahr; es ist Quatsch. Das chinesische Wort für „Krise“ ist 危機 Wéijī , das Wort für „Chance“ ist hingegen 機會 Jīhuì. Beide Wörter enthalten das Zeichen 機 Jī, dieses wird jedoch kaum je alleinstehend verwendet; je nach Verwendung ist seine Bedeutung Maschine, Möglichkeit oder Wendepunkt. Aber wenn’s nicht wahr ist, so ist es wenigstens gut erfunden!
Wie dem auch sei, bei mir ist auf jeden Fall letzte Woche die Krise eingetrudelt: Tante Misère, Onkel Desaster, Schwester Malaise und Bruder Schlamassel, alle gemeinsam zu Besuch! Ich habe mich ja schon im Februar gefragt, wann ich wohl in diese Phase eintreten würde, und voilà: nach knapp 6 Wochen war es soweit.
Ich empfand auf einmal übermässig, dass ich immer noch überhaupt nichts könne; dass alles, was ich bis jetzt gelernt hatte, komplett für die Katz‘ sei, weil ich im täglichen Leben kaum je erfolgeich davon Gebrauch machen konnte (wie ich bereits im letzen Bericht andeutete). Und weil ein Unglück selten von alleine kommt, entschloss sich meine Hauptlehrerin just zu diesem Zeitpunkt und ohne Vorwarnung ihr Mandat an den Nagel zu hängen. So kam es, dass mir von einem Tag auf den anderen, eine neue Fachkraft für schulischen Unterricht vor die bereits blutig geschlagene Nase gesetzt wurde.

Mit der neuen Lehrerin kam ich vom ersten Augenblick an überhaupt nicht zurecht. Sie spricht nur ungebremstes Chinesisch mit einem relativ starken taiwanischen Akzent. No English. Am ersten Tag verstand ich den ganzen Tag lang nur Bahnhof, nur etwa geschätzte 10% von all dem, was sie zu mir sagte, kamen bei mir an. Bei einem 6-stündigen Unterrichtstag ergibt das sehr sehr viel Unverstandenes. Dazu kam, dass auch ihr Unterrichtsstil komplett anders war: Da sie das Lehrmittel der Schule nicht kannte, benutzte sie es nur wenig, was mir das Gefühl gab, dass der Unterricht kaum Struktur hatte. Sie gab mir Hausaufgaben, die weit über meinen Fähigkeiten lagen und die mich beinahe zur Verzweiflung trieben. Nach dem zweiten Unterrichtstag gingen bei mir die Lichter aus, mein Hirn fror komplett ein, und in schauriger Erwartung des dritten Tages schlief ich hundsmiserabel. Kurz gesagt: Die Hütte brannte, Holland war in Not und bei mir war Matthäi am Letzen. Ich hatte die Freude am Chinesischlernen komplett verloren und überlegte mir ernsthaft, damit aufzuhören. Wie in einem Roman von Adalbert Stifter herrschte während dieser Zeit passenderweise saumässig mieses Wetter; es sträzte, was es sträzen mochte und das Thermometer zeigte um die 16°C; im ungeheizten Zimmer war es Abends 真的不太舒服, zhēn de bú tài shūfú, wirklich nicht sehr gemütlich.
Am letzten Freitag habe ich schliesslich einen Notruf an die Schule abgesetzt, allerdings ist dummerweise gerade jetzt ein sehr langes Feiertagswochenende (Sa-Mi) und ich habe bisher noch keine eindeutige Antwort erhalten. Ich hoffe inständig, dass ich den auf Grund gelaufenen Kahn wieder flott bekomme.
Natürlich hatte das Auswirkungen auf meinen PLHS Score!

In der letzten Woche (#7) ging es, wenig überraschend, überhaupt nicht vorwärts. Eigentlich müsste ich den Score für Lesen (L) und Sprechen (P) sogar reduzieren. Meine Performance im Unterricht war nämlich absolut unterirdisch, weil mein Hirn nur noch mit Notstrom lief [1].

Heute Mittwoch, 5. April, ist es in Anbetracht der erlittenen Havarie an der Zeit eine erste Bilanz zu ziehen. Captain’s Logbook entry, sozusagen. Mein ursprüngliches Ziel war ja, besser Chinesisch als Französisch zu sprechen [2]. Inzwischen musste ich aber feststellen, dass mein Französisch gar nicht so schlecht ist! Wenn also nicht noch ein Wunder passiert, dann wird das definitiv nix und ich muss meine Erwartungen etwas nach unten anpassen.
Werde ich im Mai also so gut Chinesisch können wie Schwedisch oder Spanisch? Hmm… vielleicht. Ich denke der Wortschatz ist mittlerweile etwa gleich gross oder sogar etwas grösser, aber die Schweden und Spanier verstehen mich vermutlich besser. Lesen ist natürlich sowohl auf Spanisch wie auch auf Schwedisch kein grosses Problem, in Schwedisch kann man die Hälfte aller Wörter aus dem Deutschen ableiten, im Spanischen hilft Französisch enorm. Das heisst, beim aktiven Sprechen komme ich wohl in die Nähe, beim passiven Verständnis (Hören und Lesen) kann mein Chinesisch im Vergleich einpacken.
Es bleibt mir als Trost, dass ich am Ende wohl besser Chinesisch als Russisch und Italienisch sprechen werde. Allerdings kann ich in Italien die Speisekarten definitiv besser lesen; was bei dortigen Aufenthalten, zusammen mit der Fähigkeit, ebendiese Speisen auf italienisch zu bestellen, ein unschlagbares Plus ist. Zudem dürfte ich beim Karaoke mit italienischen Canzoni mehr Herzen gewinnen als mit chinesischen Schlagern.

Wie geht es weiter? Auch wenn der Spruch mit den chinesischen Zeichen für Chance und Krise auf alternativen Fakten basiert, so bin ich doch mit seiner Kernaussage einverstanden: jede Krise kann auch eine Chance sein (vermutlich stimmt das auch umgekehrt, gibt es darüber Bücher?).
In aller Regel tritt man aus überstandenem Ungemach gestärkt hervor. Das einzige was ich weiss, ist dass eine Änderung geben muss – ob diese zum Besseren oder Schlechteren sein wird, werden wir sehen. Ich bleibe sorgfältig optimistisch, es bleiben gut zwei Wochen Unterrichtszeit, ich habe immer noch eine fantastische Lehrerin und Ende April, nach Abschluss meines Kurses und bevor Dominique eintrudelt, werde ich noch 10 Tage lang per Velo in den Süden Taiwans fahren. Das wird der definitive Praxistest, denn abseits der grösseren Städte wird nur relativ wenig Englisch gesprochen (wenn ich Pech habe aber auch kein Mandarin, die Mehrheit der Taiwaner spricht nämlich von Haus aus Taiwanesisch).

Lassen wir uns also überraschen!
拜拜了, euer 堯逸遠
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[1] Aufmerksamen Lesern wird es nicht entgangen sein: In Spalte „H“ ging es in der vorletzten Woche mit dem Hörverständnis deutlich vorwärts. Der Grund dafür ist wohl der folgende: seit der Erkenntnis, dass Hörverständis meine grösste Schwäche ist, konsumiere ich in fast jeder freien Minute Podcasts und Youtube-Videos mit „Chinese listening practice“. Diese Gewohnheit trägt nun langsam Früchte: Zwar fehlt mir nach wie vor viel Vokabular, aber ich kann zunehmend auch in sehr schnell (lies: normal) gesprochenem Chinesisch Wörter oder Halbsätze erkennen und hin und wieder kapiere ich sogar ganze Sätze oder Satzfolgen, hooray! Ich habe den Eindruck, dass sich dieser Trend auch in der vergangenen Woche – trotz gegenteiliger Erfahrung im Unterricht – weiter fortgesetzt hat.
Youtube ist wirklich ein fantastisches Hilfsmittel, um Sprachen zu lernen. Es gibt Myriaden von sehr guten und unterhaltsamen Lernvideos, von Grammatiklektionen über vorgelesene Texte, die spezifisch das Hörverständnis trainieren, bis zu Soap Operas. Ich gucke mir sogar die nervigen Unterbrecherwerbungen bis zum Ende an, seien sie noch so doof. Hauptsache Chinesisch!
[2] Natürlich war das von Anfang an als Witz gemeint. Ich denke, dass mein Französisch, auch wenn es nülpig ist, sicher einem B1 entspricht (mittleres Niveau). In Alltagssituationen komme ich damit problemlos zurecht. Mein Schwedisch, Spanisch und Italienisch sind wohl ein A1 (Anfänger), ich kann mich sätzchenweise durchschlagen und lese das alles relativ gut. Mein Russisch hingegen ist definitiv ein A0. Von meinem Jahr im Gymi sind nur noch 2 Sätze geblieben, я незнаю und ты говоришь по-немецки, sowie die Fähigkeit, immer noch einigermassen gut kyrillisch lesen zu können..






















