Willkommen zur vierten Ausgabe unseres je länger desto seltener erscheinenden wöchentlichen Newsletters! Anscheinend hat eine Woche zur Zeit etwa 11 Tage… Tut mir leid, dass ich nicht häufiger schreibe, aber der Schlendrian hat mich am Schlafittchen.
Seit ich in unmittelbarer Nähe meines Unterrichtslokals wohne (wir erinnern uns: Gehdistanz = 3 Minuten), hat sich mein Aktionsradius drastisch verkleinert! Meine Metro Benutzungskosten sind praktisch auf Null gesunken und weil ich mich nach der Schule nicht mehr durch zahlreiche unbekannte Stadtviertel und U-Bahnstationen kämpfen muss, hat sich leider auch die Rate spontaner drive-by Entdeckungen und ungeplanter Ausflüge reduziert… Zum Glück gibt es ja noch die Wochenenden, die ich zunehmend für längere Exkursionen nutze.
Letzten Sonntag musste ich meinen Allerwertesten allerdings kaum bewegen, um unterhalten zu werden. In unserem Quartier kam nämlich die Fasnacht zu Besuch! Soweit ich herausfinden konnte, wurde vor 65 Jahren ein Tempel für einen bestimmten Gott in der hiesigen Nachbarschaft eröffnet, und seither kommen jährlich am Jahrestag eine Menge Vereine aus einer Stadt im Süden Taiwans nach Taipei ins Tonghua-Viertel, um dem nun hier ansässigen Gott ihre Aufwartung zu machen. Eine lange Prozession von Tänzern, Drachenschwingern, Marschmusikgruppen, Quietschtrötenbläsern, Trommlern und Kungfu-Kämpfern bewegte sich durchs die Strassen und besuchte dabei nicht nur den besagten Tempel, sondern auch alle benachbarten (man will ja keinen Gott verstimmen) . Sobald ein Tempel erreicht war, hielt jede Gruppe kurz an und zeigte eine kleine Darbietung, wonach es weiterging. Das Ganze wurde begleitet von endlos krachendendem Feuerwerk und superlaut quietschenden Tröten, die jeden Basler Pfyffebläser vor Neid erblassen lassen würden. Freundlicherweise begannen die Festivitäten erst um 9 Uhr morgens und endeten um ca. 4 Uhr Nachmittags, es gab also kein böses Erwachen am Sonntag. Für alle Interessierten gibt’s auch ein Video mit markerschütterndem Soundtrack.

Wenn nicht gerade die Fasnacht zu Besuch ist, kann man in Taipei den Sonntag bei schönem Wetter auch bestens auf dem Velo verbringen. Die Stadt wird von zwei Flüssen, Keelung und Xindian, durchflossen, welche sich im Osten der Stadt vereinigen und als Tamsui ins Meer fliessen. Alle Flussufer sind beidseits durchgehend als Park angelegt und für die Öffentlichkeit zugänglich. Hunderte von Kilometern Velo- und Fusswege säumen die Ufer; daneben gibt es auch unzählige Basketball-, Baseball- und Fussballfelder, die vor allem am Wochenende rege genutzt werden. Hohe Mauern zwischen Park und Stadt halten den Lärm fern und lassen einen die Hektik des Alltags für eine Weile vergessen, sei es beim Picknicken, beim Spörteln oder beim Fischen. Letzteres sieht man recht häufig und es werden auch jede Menge Fische gefangen. Wegen der zweifelhaften Qualität des Flusswassers werden diese allerdings nicht verspiesen sondern umgehend wieder zurück ins mehr oder weniger verseuchte Nass geworfen.

Hat man ein eigenes Velo, kann man damit von zu Hause bis an den Fluss fahren, oder es auch mit in die U-Bahn nehmen, und damit irgendwohin zu fahren. Die MRT (Mass Rapid Transport, so wird hier Metro genannt, die mehrheitlich über Grund fährt) nimmt gerne auch Fahrräder mit. Ich habe das auch schon ausprobiert, allerdings unfreiwillig: das Velo, welches mir von meiner Gastfamilie geliehen wurde, hatte nämlich eine Panne, und ich wollte deshalb die Metro nutzen, um mit dem kaputten Velo im Schlepptau nach Hause zurückzufahren. Nichts leichter als das: in Windeseile hatte ich am bedienten Schalter ein Fahrrad-Ticket gelöst. Nur zwei Mal umsteigen und schon würde ich trotz Panne – flitzflitz – noch rechtzeitig zum Znacht zu Hause sein.

Leider hatte ich auf meinem Velotransportzettel ein klitzekleines Detail übersehen: NO BICYCLES ON THE BROWN LINE! Als ich, im Bestreben, möglichst schnell nach Hause zu kommen, in Nanjing Fuxing auf die braune Linie umsteigen wollte und deshalb mit meinem Göppel quietschfidel durch die Metrostation marschierte, ertönte plötzlich eine schrille Pfeife und eine Reinigungskraft kam händeringend auf mich zugerannt. „不行! Cannot have Bicycle in Station! 🙅“ Anschliessend wurde ich zur diensthabenden Stationschefin abgeführt, die mir meinen Fauxpas noch einmal erklärte: Keine Velos auf der braunen Linie! Ich müsse auf der grünen Linie bis Zhongshan fahren und dort auf die rote Linie umsteigen. „Alles klar, 我懂, sorry, 對不起, tut mir leid, 不好意思! Zum Glück ist nichts passiert, ich gehe sofort zurück und mache den kleinen Umweg via Songshan, versprochen! Kann ich jetzt gehen?“ Nix. Die Chefin bedeutete mir zu warten, während sie wie wild in der Gegend herumtelefonierte und WalkieTalkie funkte. Eine Viertelstunde später durfte ich, von der Putzfrau eskortiert, zurück aufs 50m entfernte Perron der grünen Linie. Die Frau wartete mit mir zusammen bis der Zug kommt und zeigte mir genau, wo ich einsteigen sollte. Danach fuhr ich bis Songshan und wurde dort von einem Security-Typen in Empfang genommen, der mich bis aufs Perron der roten Linie begleitete, wo mir wiederum genau gezeigt wurde, wo ich einsteigen müsse. Zur Sicherheit wurde dem Zugführer noch gesagt, dass ich mit meinem Velo bis Xinyi Anhe mitfahre. Dort angekommen, wurde ich noch einmal abgeholt und freundlichst bis zum Stationsausgang begleitet, um ja sicher zu stellen, dass sowohl Velo wie auch unfähiger Laowai die MRT-Zone verliessen. Eine gute Atemtechnik und das Ausschalten der primären Hirnfunktionen sorgte dafür, dass ich den den Umstand, wie ein fünfjähriges Kind behandelt zu werden, mit der notwendigen Gelassenheit über mich ergehen lassen konnte. Das Nachtessen war zum Glück noch warm, als ich schlussendlich mit einer Stunde Verspätung zu Hause ankam.
Das äusserst schöne Wetter der vergangenen Wochen bot auch eine gute Gelegenheit für eine Wanderung (Taiwan ist ein Wanderparadies). Von Houtong, einem ehemaligen Kohleminendorf, das heute voller Katzen und damit zu einer Touristenattraktion geworden ist, bin ich bis nach Jiufen gewandert. In Jiufen haben die Japaner zur Kolonialzeit eine Goldmine betrieben, heute ist der Ort vor allem wegen seines historischen Dorfkerns, einigen schönen alten Teehäusern und der tollen Aussicht ein beliebter Ausflugsort. Während sich an den beiden Orten grössere Menschenmassen durch die Strassen wälzten, wanderte ich mehr oder weniger allein über einen etwa 500m hohen Pass und genoss die Ruhe, die blühenden Kirschbäume und den Ausblick vom Pass aufs Meer bis nach Keelung. In Jiufen gab’s dann zum Abschludd noch einen Sonnenuntergang.


Ausserdem habe ich auch noch den riesigen Blumen- und Pflanzenmarkt in Daan besucht (Verveine, Thymian und Chili nach Hause geschleppt; Schnäppchen!) und mir die Tanzperformance 1000 Gestures von Boris Charmatz im „Taipei Performing Arts Center“ (TPAC) angeschaut. Das Gebäude im Stadtteil Shilin hat eine ziemlich coole Architektur: die beiden Bühnen sind in auskragenden Beulen untergebracht, das Publikum guckt also quasi von innen nach aussen.

Wie sieht es an der Chinesisch-Front aus? Ich habe die Halbzeit des Unterrichts (d.h. 5 von 10 Wochen) erreicht, und torkle zwischen Frustmomenten und Erfolgserlebnissen hin und her. Zeitweise bezweifle ich, dass ich je in der Lage sein werde, eine längere Unterhaltung auf Chinesisch zu führen, aber dann gibt es plötzlich wieder einen Sprung vorwärts. Beide Lehrerinnen bekräftigen regelmässig, dass ich grosse Fortschritte mache. Wir haben bereits 2/3 des Anfängerstoffes hinter uns und wenn wir die Geschwindigkeit aufrecht erhalten können, werde ich tatsächlich auch noch Stufe B1 (Intermediate) anfangen oder sogar noch abschliessen können.

Am weitesten fortgeschritten sind meine Lesefähigkeiten. Einen meinem Wortschatz angemessenen Text kann ich relativ zügig lesen und verstehen; auch Vorlesen ist okay. Ich angefangen, Bücher auf Chinesisch zu lesen. Es gibt kurze Texte, auch zeitgenössischer Autoren, die – wie Kinderbücher – mit einem limitierten Vokabular (150, 300, 500, 1000 etc. verschiedene Worte) verfasst sind. Das klappt, mit Hilfe eines Wörterbuches für die wenigen unbekannten Wörter, schon ganz gut und gibt Grund auf sich selbst stolz zu sein. Der Frust kommt, wenn man auf die Strasse rausgeht oder irgend ein Buch oder eine Zeitschrift öffnet: da reichen meine mickerigen 500 Zeichen nicht weit, es wären wohl 3000-5000 nötig. Das Fiese ist, dass man – im Gegensatz zu Texten in anderen Sprachen – absolut keine Chance hat, unbekannte Worte irgendwie auszusprechen oder abzuleiten. Jedes unbekannte Zeichen sorgt für eine blanke Stelle im Text, das macht es extrem schwierig, das Gelernte im Alltag einzusetzen (z.B. kann ich auf einer Speisekarte, auch wenn ich die Hälfte des Namens eines Gerichts verstehe, diesen nicht aussprechen, weil ich den Teil, den ich nicht verstehe, nicht einfach ablesen kann).
Auch das Sprechen macht Fortschritte. Ich kann nun doch schon kurze Vorträgli halten, mehrheitlich aus Hauptsätzen bestehend. „Wenn…, dann…“, „Weil…, deshalb…“ sowie Nebensätze mit „aber“ und „und“ sind kein grosses Problem mehr, Vergleiche liegen auch drin. Von Relativsätzen (d.h. Rückbezüge wie „die Blumen, die ich gestern gekauft habe“) kann ich erst träumen, ich glaube das kommt nun endlich nächste Woche dran (im Chinesischen gibt es keine Relativpronomen, was die Bildung von Relativsätzen natürlich etwas verkompliziert).
Ich kann erzählen woher ich komme, was es dort gibt, was ich gerne mache und andere Leute dasselbe fragen. Tiptop! Wenn ich Glück habe und die Töne und Aussprache einigermassen treffe, dann werde ich auch verstanden und erhalte eine Antwort. Das Problem ist nur, dass ich diese dann meistens nicht verstehe, sogar wenn sie in einem mir grundsätzlich geläufigen Vokabular erfolgt. Natürlich ist das ein Klassiker in der Frust-Hitliste eines jeden Sprachenlernenden, weil Muttersprachler viel zu schnell und hier in Taiwan auch oft noch mit einem Akzent sprechen. Für mich ist dieses Problem zur Zeit das grösste Hindernis auf dem Weg zur gemütlichen Plauderei mit der Stationsvorsteherin in der Metro oder auch nur beim Bestellen eines 珍珠奶茶 Zhēnzhūnǎichá (Bubble-Milchtee). Ich will aber nicht zu schwarz malen; ich verstehe sowohl meine Lehrerinnen wie auch die Mädels der Gastfamilie zusehendes besser. Ab und zu gibt es ergreifende Momente, in denen ich plötzlich fast alles verstehe, aber diese sind leider immer noch sehr selten.
Mit Hilfe eines Pinyin-Keyboards kann ich problemlos auch Texte in chinesischer Schrift verfassen. Ich muss inzwischen öfters kleine Aufsätzchen als Hausaufgabe schreiben, und weil dies mittlerweile recht zügig vonstatten geht, habe ich mich dazu entschlossen die Spalte „Schreiben“ in der PLHS-Tabelle entsprechend anzupassen. Schreiben von Hand ist selbstredend immer noch eine 0-1 und wird es auch bleiben.
Das einzige, was ich schreiben kann, ist mein chinesischer Name. Jawoll, so wie fast jeder Taiwanese und jede Taiwanesin sich einen englischen Namen zulegt, habe ich mir einen chinesischen Namen besorgt! Den Nachnamen habe ich selbst gewählt (aus einer grossen Liste mit allen chinesischen Nachnamen), für den Vornamen habe ich meine Gastfamilie um Hilfe gebeten. Einerseits, um ein Desaster mit möglichen Doppeldeutigkeiten zu vermeiden und andererseits, weil auch Faktoren wie „wohlklingend“ eine Rolle spielen und weil ich einen Namen wollte, der zu mir passt. Herausgekommen ist dabei 堯逸遠, Yáo Yì Yuǎn, mit /\_ als Soundwave 😉.

堯 Yáo ist der Nachname (im asiatischen Raum wird dieser immer vorangestellt). Es ist der Name eines frühen chinesischen Kaisers. Ich fand, dass das durchaus mit der Herkunft von „Kaspar“ korreliert und besser passt als „Feng“ (lautmalerisch für „von“) oder „Gong“ (lautmalerisch für „Gun…ten“), was von verschiedener Seite vorgeschlagen wurde. Zudem ergibt es mit den beiden „Y“ des Vornamens ein cooles Y-Tripel!
逸遠 Yì Yuǎn ist der Vorname. Die beiden Zeichen bedeuten „easy, relaxed“, respektive „weit weg, entlegen“. Das erstere ist meinen Gastgebern offenbar als Wesenszug von mir aufgefallen, letzteres passt zu meiner relativen Weitgereistheit und meinem Drang, abgelegenere Weltgegenden zu besuchen.
Das bedeutet, ihr könnt ab sofort 小逸 zu mir sagen! Aber Achtung: Töne beachten!
Bis zum nächsten Mal, 拜拜了.





