Halbzeit!

Willkommen zur vierten Ausgabe unseres je länger desto seltener erscheinenden wöchentlichen Newsletters! Anscheinend hat eine Woche zur Zeit etwa 11 Tage… Tut mir leid, dass ich nicht häufiger schreibe, aber der Schlendrian hat mich am Schlafittchen.

Seit ich in unmittelbarer Nähe meines Unterrichtslokals wohne (wir erinnern uns: Gehdistanz = 3 Minuten), hat sich mein Aktionsradius drastisch verkleinert! Meine Metro Benutzungskosten sind praktisch auf Null gesunken und weil ich mich nach der Schule nicht mehr durch zahlreiche unbekannte Stadtviertel und U-Bahnstationen kämpfen muss, hat sich leider auch die Rate spontaner drive-by Entdeckungen und ungeplanter Ausflüge reduziert… Zum Glück gibt es ja noch die Wochenenden, die ich zunehmend für längere Exkursionen nutze.

Letzten Sonntag musste ich meinen Allerwertesten allerdings kaum bewegen, um unterhalten zu werden. In unserem Quartier kam nämlich die Fasnacht zu Besuch! Soweit ich herausfinden konnte, wurde vor 65 Jahren ein Tempel für einen bestimmten Gott in der hiesigen Nachbarschaft eröffnet, und seither kommen jährlich am Jahrestag eine Menge Vereine aus einer Stadt im Süden Taiwans nach Taipei ins Tonghua-Viertel, um dem nun hier ansässigen Gott ihre Aufwartung zu machen. Eine lange Prozession von Tänzern, Drachenschwingern, Marschmusikgruppen, Quietschtrötenbläsern, Trommlern und Kungfu-Kämpfern bewegte sich durchs die Strassen und besuchte dabei nicht nur den besagten Tempel, sondern auch alle benachbarten (man will ja keinen Gott verstimmen) . Sobald ein Tempel erreicht war, hielt jede Gruppe kurz an und zeigte eine kleine Darbietung, wonach es weiterging. Das Ganze wurde begleitet von endlos krachendendem Feuerwerk und superlaut quietschenden Tröten, die jeden Basler Pfyffebläser vor Neid erblassen lassen würden. Freundlicherweise begannen die Festivitäten erst um 9 Uhr morgens und endeten um ca. 4 Uhr Nachmittags, es gab also kein böses Erwachen am Sonntag. Für alle Interessierten gibt’s auch ein Video mit markerschütterndem Soundtrack.

Kleinen Moment bitte, Ihre Messer sind gleich wieder scharf!

Wenn nicht gerade die Fasnacht zu Besuch ist, kann man in Taipei den Sonntag bei schönem Wetter auch bestens auf dem Velo verbringen. Die Stadt wird von zwei Flüssen, Keelung und Xindian, durchflossen, welche sich im Osten der Stadt vereinigen und als Tamsui ins Meer fliessen. Alle Flussufer sind beidseits durchgehend als Park angelegt und für die Öffentlichkeit zugänglich. Hunderte von Kilometern Velo- und Fusswege säumen die Ufer; daneben gibt es auch unzählige Basketball-, Baseball- und Fussballfelder, die vor allem am Wochenende rege genutzt werden. Hohe Mauern zwischen Park und Stadt halten den Lärm fern und lassen einen die Hektik des Alltags für eine Weile vergessen, sei es beim Picknicken, beim Spörteln oder beim Fischen. Letzteres sieht man recht häufig und es werden auch jede Menge Fische gefangen. Wegen der zweifelhaften Qualität des Flusswassers werden diese allerdings nicht verspiesen sondern umgehend wieder zurück ins mehr oder weniger verseuchte Nass geworfen.

Fischer’s Fritz fischt nicht-so-frische Fische

Hat man ein eigenes Velo, kann man damit von zu Hause bis an den Fluss fahren, oder es auch mit in die U-Bahn nehmen, und damit irgendwohin zu fahren. Die MRT (Mass Rapid Transport, so wird hier Metro genannt, die mehrheitlich über Grund fährt) nimmt gerne auch Fahrräder mit. Ich habe das auch schon ausprobiert, allerdings unfreiwillig: das Velo, welches mir von meiner Gastfamilie geliehen wurde, hatte nämlich eine Panne, und ich wollte deshalb die Metro nutzen, um mit dem kaputten Velo im Schlepptau nach Hause zurückzufahren. Nichts leichter als das: in Windeseile hatte ich am bedienten Schalter ein Fahrrad-Ticket gelöst. Nur zwei Mal umsteigen und schon würde ich trotz Panne – flitzflitz – noch rechtzeitig zum Znacht zu Hause sein.

Mit der Metro auf dem schnellsten Weg nach Hause

Leider hatte ich auf meinem Velotransportzettel ein klitzekleines Detail übersehen: NO BICYCLES ON THE BROWN LINE! Als ich, im Bestreben, möglichst schnell nach Hause zu kommen, in Nanjing Fuxing auf die braune Linie umsteigen wollte und deshalb mit meinem Göppel quietschfidel durch die Metrostation marschierte, ertönte plötzlich eine schrille Pfeife und eine Reinigungskraft kam händeringend auf mich zugerannt. „不行! Cannot have Bicycle in Station! 🙅“ Anschliessend wurde ich zur diensthabenden Stationschefin abgeführt, die mir meinen Fauxpas noch einmal erklärte: Keine Velos auf der braunen Linie! Ich müsse auf der grünen Linie bis Zhongshan fahren und dort auf die rote Linie umsteigen. „Alles klar, 我懂, sorry, 對不起, tut mir leid, 不好意思! Zum Glück ist nichts passiert, ich gehe sofort zurück und mache den kleinen Umweg via Songshan, versprochen! Kann ich jetzt gehen?“ Nix. Die Chefin bedeutete mir zu warten, während sie wie wild in der Gegend herumtelefonierte und WalkieTalkie funkte. Eine Viertelstunde später durfte ich, von der Putzfrau eskortiert, zurück aufs 50m entfernte Perron der grünen Linie. Die Frau wartete mit mir zusammen bis der Zug kommt und zeigte mir genau, wo ich einsteigen sollte. Danach fuhr ich bis Songshan und wurde dort von einem Security-Typen in Empfang genommen, der mich bis aufs Perron der roten Linie begleitete, wo mir wiederum genau gezeigt wurde, wo ich einsteigen müsse. Zur Sicherheit wurde dem Zugführer noch gesagt, dass ich mit meinem Velo bis Xinyi Anhe mitfahre. Dort angekommen, wurde ich noch einmal abgeholt und freundlichst bis zum Stationsausgang begleitet, um ja sicher zu stellen, dass sowohl Velo wie auch unfähiger Laowai die MRT-Zone verliessen. Eine gute Atemtechnik und das Ausschalten der primären Hirnfunktionen sorgte dafür, dass ich den den Umstand, wie ein fünfjähriges Kind behandelt zu werden, mit der notwendigen Gelassenheit über mich ergehen lassen konnte. Das Nachtessen war zum Glück noch warm, als ich schlussendlich mit einer Stunde Verspätung zu Hause ankam.

Das äusserst schöne Wetter der vergangenen Wochen bot auch eine gute Gelegenheit für eine Wanderung (Taiwan ist ein Wanderparadies). Von Houtong, einem ehemaligen Kohleminendorf, das heute voller Katzen und damit zu einer Touristenattraktion geworden ist, bin ich bis nach Jiufen gewandert. In Jiufen haben die Japaner zur Kolonialzeit eine Goldmine betrieben, heute ist der Ort vor allem wegen seines historischen Dorfkerns, einigen schönen alten Teehäusern und der tollen Aussicht ein beliebter Ausflugsort. Während sich an den beiden Orten grössere Menschenmassen durch die Strassen wälzten, wanderte ich mehr oder weniger allein über einen etwa 500m hohen Pass und genoss die Ruhe, die blühenden Kirschbäume und den Ausblick vom Pass aufs Meer bis nach Keelung. In Jiufen gab’s dann zum Abschludd noch einen Sonnenuntergang.

Treppe im Nichts: „Stairway to Heaven“ zwischen Houtong und Jiufen
Sonnenuntergang in Jiufen

Ausserdem habe ich auch noch den riesigen Blumen- und Pflanzenmarkt in Daan besucht (Verveine, Thymian und Chili nach Hause geschleppt; Schnäppchen!) und mir die Tanzperformance 1000 Gestures von Boris Charmatz im „Taipei Performing Arts Center“ (TPAC) angeschaut. Das Gebäude im Stadtteil Shilin hat eine ziemlich coole Architektur: die beiden Bühnen sind in auskragenden Beulen untergebracht, das Publikum guckt also quasi von innen nach aussen.

Wenn Architekten zuviel rauchen kommt das TPAC raus

Wie sieht es an der Chinesisch-Front aus? Ich habe die Halbzeit des Unterrichts (d.h. 5 von 10 Wochen) erreicht, und torkle zwischen Frustmomenten und Erfolgserlebnissen hin und her. Zeitweise bezweifle ich, dass ich je in der Lage sein werde, eine längere Unterhaltung auf Chinesisch zu führen, aber dann gibt es plötzlich wieder einen Sprung vorwärts. Beide Lehrerinnen bekräftigen regelmässig, dass ich grosse Fortschritte mache. Wir haben bereits 2/3 des Anfängerstoffes hinter uns und wenn wir die Geschwindigkeit aufrecht erhalten können, werde ich tatsächlich auch noch Stufe B1 (Intermediate) anfangen oder sogar noch abschliessen können.

Halbzeit und ein erstes hellgrünes Feldchen

Am weitesten fortgeschritten sind meine Lesefähigkeiten. Einen meinem Wortschatz angemessenen Text kann ich relativ zügig lesen und verstehen; auch Vorlesen ist okay. Ich angefangen, Bücher auf Chinesisch zu lesen. Es gibt kurze Texte, auch zeitgenössischer Autoren, die – wie Kinderbücher – mit einem limitierten Vokabular (150, 300, 500, 1000 etc. verschiedene Worte) verfasst sind. Das klappt, mit Hilfe eines Wörterbuches für die wenigen unbekannten Wörter, schon ganz gut und gibt Grund auf sich selbst stolz zu sein. Der Frust kommt, wenn man auf die Strasse rausgeht oder irgend ein Buch oder eine Zeitschrift öffnet: da reichen meine mickerigen 500 Zeichen nicht weit, es wären wohl 3000-5000 nötig. Das Fiese ist, dass man – im Gegensatz zu Texten in anderen Sprachen – absolut keine Chance hat, unbekannte Worte irgendwie auszusprechen oder abzuleiten. Jedes unbekannte Zeichen sorgt für eine blanke Stelle im Text, das macht es extrem schwierig, das Gelernte im Alltag einzusetzen (z.B. kann ich auf einer Speisekarte, auch wenn ich die Hälfte des Namens eines Gerichts verstehe, diesen nicht aussprechen, weil ich den Teil, den ich nicht verstehe, nicht einfach ablesen kann).

Auch das Sprechen macht Fortschritte. Ich kann nun doch schon kurze Vorträgli halten, mehrheitlich aus Hauptsätzen bestehend. „Wenn…, dann…“, „Weil…, deshalb…“ sowie Nebensätze mit „aber“ und „und“ sind kein grosses Problem mehr, Vergleiche liegen auch drin. Von Relativsätzen (d.h. Rückbezüge wie „die Blumen, die ich gestern gekauft habe“) kann ich erst träumen, ich glaube das kommt nun endlich nächste Woche dran (im Chinesischen gibt es keine Relativpronomen, was die Bildung von Relativsätzen natürlich etwas verkompliziert).

Ich kann erzählen woher ich komme, was es dort gibt, was ich gerne mache und andere Leute dasselbe fragen. Tiptop! Wenn ich Glück habe und die Töne und Aussprache einigermassen treffe, dann werde ich auch verstanden und erhalte eine Antwort. Das Problem ist nur, dass ich diese dann meistens nicht verstehe, sogar wenn sie in einem mir grundsätzlich geläufigen Vokabular erfolgt. Natürlich ist das ein Klassiker in der Frust-Hitliste eines jeden Sprachenlernenden, weil Muttersprachler viel zu schnell und hier in Taiwan auch oft noch mit einem Akzent sprechen. Für mich ist dieses Problem zur Zeit das grösste Hindernis auf dem Weg zur gemütlichen Plauderei mit der Stationsvorsteherin in der Metro oder auch nur beim Bestellen eines 珍珠奶茶 Zhēnzhūnǎichá (Bubble-Milchtee). Ich will aber nicht zu schwarz malen; ich verstehe sowohl meine Lehrerinnen wie auch die Mädels der Gastfamilie zusehendes besser. Ab und zu gibt es ergreifende Momente, in denen ich plötzlich fast alles verstehe, aber diese sind leider immer noch sehr selten.

Mit Hilfe eines Pinyin-Keyboards kann ich problemlos auch Texte in chinesischer Schrift verfassen. Ich muss inzwischen öfters kleine Aufsätzchen als Hausaufgabe schreiben, und weil dies mittlerweile recht zügig vonstatten geht, habe ich mich dazu entschlossen die Spalte „Schreiben“ in der PLHS-Tabelle entsprechend anzupassen. Schreiben von Hand ist selbstredend immer noch eine 0-1 und wird es auch bleiben.

Das einzige, was ich schreiben kann, ist mein chinesischer Name. Jawoll, so wie fast jeder Taiwanese und jede Taiwanesin sich einen englischen Namen zulegt, habe ich mir einen chinesischen Namen besorgt! Den Nachnamen habe ich selbst gewählt (aus einer grossen Liste mit allen chinesischen Nachnamen), für den Vornamen habe ich meine Gastfamilie um Hilfe gebeten. Einerseits, um ein Desaster mit möglichen Doppeldeutigkeiten zu vermeiden und andererseits, weil auch Faktoren wie „wohlklingend“ eine Rolle spielen und weil ich einen Namen wollte, der zu mir passt. Herausgekommen ist dabei 堯逸遠, Yáo Yì Yuǎn, mit /\_ als Soundwave 😉.

Gestatten: Ihro kaiserliche Hoheit, Yao Yi Yuan

Yáo ist der Nachname (im asiatischen Raum wird dieser immer vorangestellt). Es ist der Name eines frühen chinesischen Kaisers. Ich fand, dass das durchaus mit der Herkunft von „Kaspar“ korreliert und besser passt als „Feng“ (lautmalerisch für „von“) oder „Gong“ (lautmalerisch für „Gun…ten“), was von verschiedener Seite vorgeschlagen wurde. Zudem ergibt es mit den beiden „Y“ des Vornamens ein cooles Y-Tripel!

逸遠 Yì Yuǎn ist der Vorname. Die beiden Zeichen bedeuten „easy, relaxed“, respektive „weit weg, entlegen“. Das erstere ist meinen Gastgebern offenbar als Wesenszug von mir aufgefallen, letzteres passt zu meiner relativen Weitgereistheit und meinem Drang, abgelegenere Weltgegenden zu besuchen.

Das bedeutet, ihr könnt ab sofort 小逸 zu mir sagen! Aber Achtung: Töne beachten!

Bis zum nächsten Mal, 拜拜了.

Über den Dächern Taipeis

Was bisher geschah: Nach einer turbulenten Anreise bezieht K sein Quartier bei einer „Gastfamilie“. Bedingt durch die desolaten Zustände in der Bude, zieht er überstürzt wieder aus. Ohne eine feste Adresse zu haben, nimmt er seine ersten Chinesischstunden und juckelt kreuz und quer durch die Hostellandschaft Taipeis, wie ein Blatt im Wind. Derweilen sucht die Schule fieberhaft nach einer alternativen Unterkunft. Die Ereignisse überschlagen sich, als K einen überraschenden Anruf erhält…

Ha, erwischt! Der letzte Satz ist nur ein dramaturgischer Kniff. Ich habe noch überhaupt keinen Anruf gekriegt, seit ich in Taipei angekommen bin!

Was ich stattdessen erhalten habe, ist eine Textnachricht auf Line, das ist die Messenger-App, die hier jeder hat. Riona, welche die Gastfamilien und sozialen Aktivitäten der Schule managt, schreibt mir, dass sie eine neue Unterkunft für mich gefunden habe. Die Gastgeber hatten sich via Facebook auf ein Inserat der Schule gemeldet. Das Zimmer sei bereit, einzig das Bett und ein paar Utensilien fehlten noch. Und so konnte ich ein paar Tage später tatsächlich bei den Liao’s einziehen.

Die neue Bleibe ist in jeder Hinsicht ein Lottosechser, ich kann es gar nicht anders sagen. Zusammen mit Yascha, einem Politikwissenschaftler und Journalist, der ebenfalls an der LTL Chinesisch lernt, teile ich mir eine eigene Wohnung im obersten Stock eines siebenstöckigen Hauses; mit eigenem Bad und einer kleinen Terrasse, welche eine tolle Aussicht über die Dächer Taipeis bietet. Unsere Gastgeber, Liz und Douglas, sowie ihre zwei Töchter (9, 14) wohnen im vierten Stock. Jeden Abend gibt es ein gemeinsames opulentes Nachtessen, inklusive ausgedehnter Plauderei. Zugegebenermassen nicht 100% auf Chinesisch, es gibt einfach zu viel zu erzählen und mein Krüppelchinesisch reicht (noch) nirgends hin. Ausserdem, so meine Vermutung, nutzen die Liaos die Gelegenheit nur zu gerne, um selber ein bisschen Englisch zu üben. Sie sind sehr interessiert und es herrscht eine relaxte Atmosphäre, in der ich jederzeit Versuche in Chinesisch machen oder Fragen zu allem stellen kann, sei es Sprache, Kultur oder auch Politik.

Douglas ist ein äusserst passionierter Koch und zaubert jeden Abend ein 1A-Menu auf den Tisch, auch angetrieben von seiner Mutter, die ihn regelmässig telefonisch ermahnt, den beiden 老外 (Laowai; Ausländer) ja genügend Essen zu geben. Am Wochenende gibt es zudem noch zweimal gemeinsames Zmorge. Liz gibt mir jede Menge Tipps bezüglich Essen und Getränken, die es auszuprobieren gilt, und machte mich auch schon mit taiwanesischem Heavy Metal bekannt. [5]

Room with a View

Doch eine tolle Wohnung, freundliche Gastgeber, feines Essen und eine grandiose Aussicht sind noch nicht genug. Ich habe nicht nur den Lottosechser, sondern auch noch den Joker gewonnen. Ich wohne nämlich nur etwa 500m von der Schule entfernt, das heisst ich kann jeden Morgen 10 Minuten vor Unterrichtsbeginn aus dem Haus und mir bleibt, im Gegensatz zu fast allen anderen Schülern und Lehrern, die tägliche 40-minütige Pendlerei mit der MRT (U-Bahn) erspart. Wow, womit habe ich das verdient?

Znacht bei den Liaos: Wie im Restaurant, nur ohne Kellner

Auch die Nachbarschaft ist cool. Wie ich schon im letzten Bericht geschrieben habe, befindet sich die Schule (und somit auch mein neues Zuhause) in unmittelbarer Nähe des Taipei 101. Leider zeigt meine Terrasse vom 101 weg, aber ich sehe dieses Symbol Taipeis jeden Tag zwischen den Häusern aufragen; sei es, wenn ich zur Schule spaziere, über den Markt schlendere oder einen Kaffee trinken gehe. Das ist wirklich grossartig. Taipei hat sonst keine Wolkenkratzer, die zweithöchsten Gebäude nach dem 101 sind vielleicht 40 Stockwerke hoch, und auch davon gibt es relativ wenige (Quizfrage: Wie viele Stockwerke hat der 101?)

In unmittelbarer Nähe meiner Wohnung befindet sich tagsüber ein grösserer Frischwarenmarkt, auf dem alles, was essbar ist, gekauft werden kann. Hierhin kommen die Bauern vom Land, um ihre Ware loszuwerden. Am Abend verwandelt sich eine der Strassen in einen Nachtmarkt, auf dem an wohl über 80 Ständen jede Menge kleine Häppchen angeboten werden. Es hat relativ viele Restaurants und auch einige Cafés in der Umgebung, Supermärkte und Convenience Stores (z.B. 7-11 oder Family Mart) sowieso.

Abendspaziergang im Quartier

Der Einzug bei meiner Gastfamilie letzten Sonntag ist das erwähnenswerteste aus meinem sozialen Leben zur Zeit. Daneben gibt es nicht viel zu erzählen; ich habe noch ein paar Live Jazz Clubs [1] ausfindig gemacht, war in den heissen Quellen von Beitou baden [2] und wurde von meinem ersten Erdbeben durchgeschüttelt [3]. Da ich Abends meist noch Hausaufgaben erledige oder aus eigenem Antrieb noch etwas Chinesisch lerne (lesen, Podcasts, Youtube etc.), mache ich eigentlich nur an den Wochenenden ausgedehntere Ausflüge in die Stadt.

Letztes Wochenende war ein langes Feiertagswochenende. Ganz Taiwan gedenkt am 28. Februar (228) den Opfern der Aufstände von 1947 [4]. Viele Geschäfte waren geschlossen, aber wir hatten normal Unterricht, weil niemand Lust hatte, die Stunden auf Wochenenden zu verschieben (Ausfall war kein Thema, da der Unterricht wochenweise verkauft wird…)

Und damit hätten wir den Übergang zum Thema „Chinesisch“ gefunden! Vorneweg gleich mal der aktuelle PLHS Score.

Ein erstes gelbes Feldchen!

Nach einem einigermassen rasanten Start habe ich ein erstes Miniplateau erreicht. Bei der Grammatik sind wir inzwischen bei Ortsbeschreibungen angelangt. Letzte Woche habe ich geschlagene zwei Tage lang repetiert, dass die Katze auf dem Stuhl, dass der Hund darunter ist; dass sich der Kühlschrank neben dem Fernseher befindet, dass es im Laden Stäbchen, Becher und Ping Pong Bälle zu kaufen gibt, dass der Mann und das Kind vor dem Haus stehen und sich dahinter das Auto befindet, während sich – nützlich im Falle eines akuten Hungeranfalls – das Restaurant hinter dem Café, unweit der U-Bahnstation befindet… suuuuper spannend. Das Vokabular ist selbstredend immer noch äusserst eingeschränkt und die grammatischen Strukturen, die wir behandeln, sind ebenfalls noch ziemlich einfach. Ich drücke mich also mehrheitlich mit Hauptsätzen aus und die Buntheit meiner Ausdrucksweise liegt wohl irgendwo zwischen grau und beige. Das ist bisweilen etwas frustrierend, seufz.

Dafür geht es beim Lesen einigermassen voran. Ich kann einen meinem Wortschatz angemessenen Text ohne Transkription laut vorlesen, nach einigen Wiederholungen sogar einigermassen fliessend. Stilles lesen geht noch deutlich besser, weil ich dabei Töne und Aussprache ignorieren kann.

Beim Sprechen kämpfe ich natürlich immer noch primär mit den Tönen. Aber wenn ich mich konzentriert äussere, dann treffe ich diese doch meistens schon einigermassen. Meine Sprechexperimente mit der Gastfamilie sind jedenfalls zusehends von Erfolg gekrönt. Sobald die Konzentration nachlässt, z.B. weil ich müde bin oder wenn ich einfach drauflosquatsche, dann trampelt nach wie vor der Elefant durchs fein sortierte Tonhäuschen.

Darüberhinaus haben wir nun auch angefangen, meine Aussprache unabhängig von den Tönen näher unter die Lupe zu nehmen. Ich habe insbesondere Mühe, die stimmhaften Tsch- und Ts-Laute von den stimmlosen Dsch- und Ds-Lauten zu trennen. Bei mir ist immer immer zu viel Luft drin… Die eine meiner Lehrerinnen, Jessica, ist ein professioneller Sprech-Coach und sie weiss genau, auf was es ankommt und verfügt auch über entsprechendes Trainingsmaterial. Ich spreche ihr also endlose Listen mit Zh-, Tsch-, Ds-, Ts-, Sh- und Sch-Worten nach. Zehn Minuten davon ermüden Kiefer und Zunge deutlich mehr als ein zweistündiger Zahnarztbesuch! Das Gute ist, dass ich genau begriffen habe, worauf es ankommt; ich muss nur Zunge und Mund darauf trainieren, die richtigen Positionen auf Anhieb zu finden. Der Wechsel zwischen den Positionen ist dann noch die Kür. Jessica ist aber ein alter Hase und ich kann mich glücklich schätzen, dass sie mir zugeteilt wurde. Sie macht ihre Sache hervorragend und ich kann enorm von ihr profitieren. Von Avril, meiner zweiten Lehrerin, erzähle ich dann ein anderes mal…

Aus dem Leben eines Chinesischschülers

Zusammenfassend würde ich also sagen, dass mich zur Zeit hauptsächlich der limitierte Wortschatz daran hindert, Gespräche zu führen, die aus mehr als ein paar Hauptsätzen bestehen. Ich habe mich mittlerweile halbwegs an die chinesischen Zeichen gewöhnt und kann einfache Texte lesen. Töne treffe und höre ich zunehmend besser.

謝謝你閱讀。再見, 拜拜了。

[1] z.B. Sappho Live, ein kleiner gemütlicher Kellerclub mit live Jazz an jedem Wochentag, ausser Sonntag.

[2] Beitou ist ein Vorstadtquartier von Taipei, mit vielen heissen Quellen. Während der Kolonialzeit in der ersten Hälfte des letzen Jahrhunderts haben die Japaner auch ihre Badekultur nach Taiwan gebracht und in Beitou die ersten Badehäuser eröffnet. Bis heute gibt es dort viele öffentliche und private Bäder und Spa-Hotels. Ich habe meine Knochen im Long Nice Hotsprings ausgekocht (Achtung: „Long“ ist der Familienname der Betreiber). Die beiden Wasserbecken (Frauen und Männer getrennt, nackig) waren 43°C, resp. 46°C heiss.

[3] Nur ein kleines, in Taipei City hat man es kaum gespürt, es hat nur kurz geruckelt – links, rechts, links und fertig. Erdbeben sind in Taiwan an der Tagesordnung, die Insel ist eine der tektonisch aktivsten Zonen der Erde, wie folgende, von einem Experten zur Verfügung gestellte Karte zeigt:

Je brauner, desto häufiger und stärker rüttelt es

Das Central Weather Bureau von Taiwan listet alle kurzlich erfolgten Erdbeben auf seiner Website auf.

[4] Nachdem die Kuomintang (KMT) die Insel nach dem zweiten Weltkrieg von den Japanern übernommen hatten, wurde eine korrupte Regierung installiert. Als Folge davon gab es viel amtliche Willkür und Repression, was schlussendlich zu Aufständen der Bevölkerung führte, die äusserst blutig vom Militär niedergeschlagen wurden (man spricht von bis zu 28’000 Toten). Es folgte die Ausrufung von Kriegsrecht, welches bis 1987 bestehen blieb und die Phase des 40-jährigen „weissen Terrors“, der Diktatur Taiwans, einläutete.

[5] Nämlich mit Chthonic (siehe Youtube, höre Spotify). Die Band gibt es seit fast 30 Jahren und ist somit ein Urgestein asiatischen‘ Heavy Metals. Sie ist nicht zuletzt deshalb bekannt, weil ihr Gründer und Leadsinger Freddy Lim ein bekannter Politiker und Aktivist ist, der sich u.a. für die Unabhängigkeit Taiwans einsetzt. Darüber gibt es sogar einen Film, Metal Politics Taiwan, der auch im deutschsprachigen Raum diskutiert wurde.